Gender Intelligence

Report 2022

ausführlicher bericht

Entdecken Sie aktuelle Zahlen und Fakten zur Geschlechterdiversität in Schweizer Unternehmen. Profitieren Sie von vertieften Analysen zu den Herausforderungen und ihren Ursachen in Verbindung mit praktischen Empfehlungen.

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I - Haupterkenntnisse

Diversity: Das Nachwuchspotential ist nicht das Problem

Unternehmen beklagen oft, dass es einfach nicht genügend qualifizierte, vielfältige Talente auf dem Arbeitsmarkt gibt. Doch mit einem Frauenanteil von 44% in Nicht-Kaderpositionen verfügen die Unternehmen bereits über die vielfältigen Talente, die sie intern benötigen. Das Problem ist, dass Frauen in den oberen Führungsebenen nach wie vor unterrepräsentiert sind, und zwar mit nur 17% im oberen/obersten Kader. Dass Frauen (fast) gleich stark wie Männer im Nicht-Kader, aber kaum in Führungspositionen vertreten sind, ist jedes Jahr fester Bestandteil des Gender Intelligence Report. Jedoch: Der Pool weiblicher Talente stellt für Unternehmen auch ein einzigartiges Potenzial dar, das noch nicht ausreichend genutzt wird, um sowohl die Führungsebene diverser zu gestalten als auch dem zunehmenden Fachkräftemangel zu begegnen (Sander & Niedermann, 2021).

 

2 Die diesjährige Stichprobe der teilnehmenden Unternehmen weist einen besonders hohen Anteil an Unternehmen aus der MEM-Industrie auf, in denen der Frauenanteil auf allen Kaderstufen besonders niedrig ist. Aus diesem Grund sind die Zahlen in diesem Jahr niedriger als in früheren Ausgaben des Gender Intelligence Report.

Geschlechterverteilung nach Geschlecht und Kaderstufe

Advance-Mitglieder schneiden besser ab als Nicht-Advance-Mitglieder, wenn es um den Anteil von Frauen auf allen Kaderstufen geht. In der oberen/obersten Kaderstufe ist der Frauenanteil in Unternehmen, die Mitglied bei Advance sind, um 5 Prozentpunkte höher als in Unternehmen, die nicht Mitglied sind. Unabhängig davon, ob ein Unternehmen Advance-Mitglied ist oder nicht, das Muster ist dasselbe: Der Frauenanteil wird mit steigender Hierarchiestufe immer kleiner.

Verteilung nach Geschlecht und Kaderstufe – Advance- vs. Nicht-Advance-Mitglieder

Weniger Frauen in einflussreichen Schlüsselpositionen

Auf den ersten Blick mag eine Repräsentation der Frauen von 35% in der untersten Kaderstufe und von fast 30% in der unteren Kaderstufe recht beachtlich erscheinen. Schliesslich wird davon ausgegangen, dass bei einer Vertretung von etwa 33% die Mitglieder einer Minderheitengruppe zumindest einen gewissen Einfluss auf die Organisationskultur ausüben (Bohnet, 2016; Kanter-Moss, 1977). Die Frage ist jedoch, wie viel Macht und Einfluss haben Frauen wirklich?

Betrachtet man die Geschlechterverteilung in Positionen mit Personalverantwortung, so wird deutlich, dass Männer auf allen Kaderstufen mehr Einfluss und Entscheidungsmacht haben. In der untersten Kaderstufe, wo Frauen mit 34% vertreten sind, gibt es nur sehr wenige Positionen mit Personalverantwortung. Betrachtet man die Gesamtstichprobe, so liegt der Anteil der Frauen in Positionen mit Personalverantwortung über die verschiedenen Kaderstufen zwischen 10% und 15%, während der Anteil Männer mit Personalverantwortung mit jeder höheren Ebene weiter wächst.

Dieses Muster zeigt eindrücklich, wie das Machtgefälle mit jeder Kaderstufe zunimmt.

Personalverantwortung nach Geschlecht und Kaderstufe

Mit anderen Worten: Viele Frauen im unteren Kader befinden sich nicht in “Sprungbrettpositionen”, die den Frauen den Weg an die Spitze ebnen könnten. Denn durch die Übernahme von Personalverantwortung steigen die Chancen auf eine Beförderung in eine nächst höhere Hierarchiestufe. Das bedeutet, dass Mitarbeitende, die bereits in der untersten Kaderstufe Verantwortung über Personal tragen, eher die Chance haben ganz nach oben zu kommen. Derzeit besetzen Frauen aber vermehrt  wenig einflussreiche Kaderpositionen in den unteren Kaderstufen (Experten- oder Verwaltungsfunktionen), in denen sie kaum Chancen haben, aufzusteigen.

Spotlight

Gesetz zu Geschlechterrichtwerten: Kluge Massnahmen bedingen systematisches Mass-Nehmen

Seit bald zwei Jahren ist in der Schweiz das Gesetz in Kraft, das börsenkotierten Unternehmen Geschlechterrichtwerte in Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten auferlegt. Wer sie unterschreitet, muss bald öffentlich erklären, weshalb die Richtwerte nicht eingehalten werden und Massnahmen in Aussicht stellen, wie der Missstand behoben werden soll.

 

Müssen Massnahmen wirksam sein?

Es erscheint spontan selbstverständlich, dass die Massnahmen ergriffen werden und wirksam sein sollen, denn «eine Massnahme ist eine Handlung mit der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.» Doch diese Definition lässt die Frage der Wirksamkeit bzw. deren Überprüfung offen.

 

Verhältnismässigkeit bedingt Kenntnis von Kennzahlen

Unsere Rechtsprechung kennt das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Das Gesetz kann Firmen zu Massnahmen anhalten, die eine Zielerreichung mit vertretbarem Aufwand ermöglichen. Doch um die Verhältnismässigkeit einschätzen zu können, muss man über die Wirksamkeit Bescheid wissen. Wie schafft man dies?

Im Begriff «Mass-Nahme» stecken die Wörter «Mass» und «nehmen». Messen, also. Gerade die jährlich erscheinenden Studien wie der vorliegende «Gender Intelligence Report» von Advance und dem Kompetenzzentrum für Diversity & Inclusion der Universität St. Gallen sowie der «Diversity Report Schweiz» von GetDiversity leisten dafür wichtige Grundlagenarbeit.

Wenn man Jahr um Jahr feststellt, dass Mitglieder-Firmen von Advance bessere Ergebnisse bei der Durchmischung erzielen als die Vergleichsgruppe der Nicht-Mitglieder, dann ist die Priorität, die Mitgliederfirmen dem Thema Durchmischung geben und dafür Geld und Zeit einsetzen, offenbar wirksam.

Systematisch Messen und Vergleichen ist zentral

Wenn man Jahr um Jahr feststellt, dass Firmen, die sich an Quoten in Gesetzen und Ratings von institutionellen Investor:innen halten müssen, in ihren Chefetagen eine deutlich bessere Durchmischung haben als solche, die nicht davon betroffen sind, dann sind Quoten vermutlich wirksam.

Trotzdem: 35% aller börsenkotierten Unternehmen der Schweiz haben immer noch NULL Frauen in ihren Verwaltungsräten und 58% verzichten gänzlich auf Frauen in der Geschäftsleitung. Lediglich 19% haben den Geschlechterrichtwert im VR bereits erreicht – 26% in den Geschäftsleitungen. Erst 6% schaffen die gesetzlich geforderte Durchmischung sowohl im Verwaltungsrat wie auch in der Geschäftsleitung. Es ist noch ein langer Weg.

 

Smart in die Zukunft investiert

Firmen, die ihre Talente-Pipeline systematisch durchmischen und ihre Zusammenarbeitskultur in Richtung Inklusion weiterentwickeln, damit die Vielfalt im Unternehmen auf allen Ebenen wirksam werden kann, haben bereits heute einen Vorteil im austrocknenden Arbeitsmarkt. Gute Fach- und Führungskräfte zu finden und zu halten, entwickelt sich für Unternehmen zu einem strategischen Vorteil. Wer heute systematisch in Vielfalt und die Zusammenarbeitskultur der Inklusion investiert, wird mit Zins und Zinseszins am Arbeitsmarkt und im Firmenwert dafür belohnt.

Veränderungen sind nur im Schneckentempo zu erwarten

Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Frauenanteil in Führungspositionen bis 2030 nur um 5 Prozentpunkte von 27% auf 32% steigen. Dieser Anstieg ist noch weit von einer gleichberechtigten Vertretung der Geschlechter entfernt.

Würden alle Branchen in gleichem Masse einstellen und befördern wie die MEM-Industrie – die ihre kleine Talentpipeline ausserordentlich gut nutzt – würde der Frauenanteil im Kader bis 2030 insgesamt 41% erreichen (gegenüber 27% im Jahr 2021). Damit könnte die volle Parität innerhalb von 20 Jahren, d. h. im Jahr 2042, erreicht werden! Wenn wir aber das derzeitige Tempo beibehalten, wird es noch 100 Jahre dauern, bis wir dieses Ziel erreichen.

Diese langsame Wachstumsprognose unterstreicht, dass “weiter so wie bisher” nicht ausreicht, um einen sinnvollen Wandel zu bewirken. Wo liegt das Problem?

 

Das Nachwuchspotenzial ist nicht das Problem

Tatsache ist: Die meisten Schweizer Unternehmen haben kein “Pipeline-Problem”. Vielmehr haben die Unternehmen oft schon eine grosse Anzahl weiblicher Talente zur Verfügung: Immerhin sind 44% der Mitarbeitenden, die im Nicht-Kader tätig sind, Frauen, sowie 35% der Mitarbeitenden auf der untersten Kaderstufe.

Auch die demografische Entwicklung weist in die richtige Richtung: Gemäss der jüngsten Analyse des Bundesamtes für Statistik (2022) ist die Erwerbsquote in der Schweiz in den letzten 10 Jahren um 1.6 Prozentpunkte gestiegen. Zwar ist die Quote der Männer immer noch höher als diejenige der Frauen (87.5% gegenüber 79.7%), doch hat sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern verringert (von 11.5 Prozentpunkten auf 7.8 Prozentpunkte). Dies bedeutet, dass immer mehr Frauen am Arbeitsmarkt teilnehmen, was das Potenzial an weiblichen Talenten zusätzlich erhöht.

Eine kleine positive Entwicklung ist auch bei der Teilzeitbeschäftigung von Männern zu beobachten. Während Teilzeitarbeit bei Frauen nach wie vor weit verbreitet ist (57.5% der erwerbstätigen Frauen zwischen 15 und 64 Jahren im Jahr 2021), stieg der Anteil bei Männern zwischen 2011 und 2021 um 3.8 Prozentpunkte auf 15.5%. Steigt die Teilzeitbeschäftigung bei Männern weiter an und sind Frauen und Männer zukünftig in ähnlichem Ausmass Teilzeit oder Vollzeit beschäftigt, könnte dies die traditionellen Geschlechternormen (z.B. insbesondere Mütter arbeiten Teilzeit) in Richtung einer partnerschaftlicheren Aufgabenteilung von Erwerbs-, Haushalts- und Familienarbeit verändern. Dies würde dazu führen, dass sich die Chancen für diverse junge Talente in Zukunft weiter verbessern und die Unternehmen weniger Ausreden haben, warum sie keine geschlechterdurchmischten Kader haben.

Junge weibliche und männliche Mitarbeitende haben ausserdem praktisch den gleichen Bildungshintergrund. In früheren Generationen waren männliche Mitarbeiter deutlich besser ausgebildet und hatten dementsprechend bessere Aufstiegschancen. Heute haben Männer und Frauen unter 30 Jahren sehr ähnliche Anteile an Tertiärabschlüssen (wobei im Nicht-Kader der Anteil Männer mit Hochschulabschluss geringfügig höher ist). Diese Gleichstellung in Bezug auf Bildung gilt auch für das Nicht-Kader.

Tertiärabschlüsse nach Geschlecht und Alter

Die zukünftige Pipeline sieht – grösstenteils – vielfältig aus

Die Abschlussquoten der letzten Jahre zeichnen ein hoffnungsvolles Bild, wenn es um das vielfältige Nachwuchspotenzial der Zukunft geht. Gemäss dem Bundesamt für Statistik wird der Anteil der Personen mit tertiärem Abschluss (höhere Berufsausbildung und Hochschulabschluss) an der Bevölkerung im Alter von 25 bis 64 Jahren voraussichtlich von 44% im Jahr 2019 auf 51% im Jahr 2030 steigen. Diese Entwicklung wird durch die Zuwanderungstrends noch verstärkt: 60% der Zugewanderten verfügen über einen Abschluss auf Tertiärstufe (BFS, 2020).

Weibliche Absolventinnen haben die Nase vorn: Einschliesslich der Fachhochschulen sind im Jahr 2020 53% aller Hochschulabschlüsse von Frauen erworben worden3. In einigen Fächern liegen Frauen und Mädchen jedoch noch hinter Männern und Jungen zurück: In wirtschaftsnahen Fächern gehen nur 35% der Bachelor- und Masterabschlüsse von Universitäten an Frauen, während an Fachhochschulen die Mehrheit der Bachelorabschlüsse im selben Bereich von Frauen erworben wird. Nur 39% der Hochschulabschlüsse in Naturwissenschaften gehen an Frauen. In den technischen Wissenschaften ist der Frauenanteil mit 35% an den Bachelorabschlüssen und 32% an den Masterabschlüssen ebenfalls niedriger, wobei zu beachten ist, dass diese Zahl vor zehn Jahren noch 7 Prozentpunkte tiefer war (BFS, 2022).

3Das letzte Jahr, in welchem diese Statistik verfügbar war.

Das Geschlechtergefälle zwischen “Mädchen-” und “Jungenfächern” beginnt schon früh: Bereits im frühesten Kindesalter wird das Interesse von Jungen und Mädchen an Mathematik und Naturwissenschaften unterschiedlich gefördert, so dass sie mit unterschiedlichen Kenntnissen in diesen Fächern in die Grundschule kommen (Solga & Pfahl, 2009). Die Interessen von Jungen und Mädchen in der Schule divergieren um die 7. Klasse herum, wo Jungen sich auf Mathematik/Naturwissenschaften und Mädchen auf Sprachen und Kunst konzentrieren (Brovelli, 2017). So liegt der Frauenanteil bei den erfolgreich abgeschlossenen Lehrstellen im Bereich Software- und Applikationsentwicklung und -analyse bei nur 9% (BFS, 2022).

Dieser Unterschied bei den Fächern sollte jedoch nicht als Ausrede für die Unternehmen dienen. Sie sollten hingegen die Initiative ergreifen und versuchen, die Vielfalt ihrer Führungspipeline frühzeitig zu beeinflussen. Unternehmen könnten beispielsweise Bildungsprogramme oder Initiativen ins Leben rufen oder unterstützen, die darauf abzielen, Gymnasiast:innen, insbesondere Mädchen, für eine Zukunft im MINT-Bereich zu begeistern. Untersuchungen zeigen, dass der Mangel an authentischen Vorbildern und dem Verständnis dafür, was eine Karriere in der Technik tatsächlich bedeutet, entscheidende Faktoren sind, die Mädchen von MINT fernhalten – das sind Lücken, die Unternehmen überbrücken können (Ostrowski, 2017). Ein Unternehmen, das Frauen für technische Berufe gezielt anwirbt und rekrutiert, ist Accenture, das mit seiner Initiative “Cloud Infrastructure Engineering Female Voices” interne weiblichen Talente als Rednerinnen auf Konferenzen präsentiert und so Vorbilder zeigt, um mehr Frauen für das Ingenieurberufe und Accenture zu gewinnen. Das löst eine positive Dynamik aus. Für Inspiration klicken Sie hier.

Unternehmen können zudem ihre vielfältigen Mitarbeiter:innen dabei unterstützen, eine höhere Berufsausbildung zu absolvieren, was ihre Aufstiegschancen erhöht. Höhere Berufsausbildungen haben oft einen starken Bezug zum ausgeübten Beruf und werden daher in Absprache mit den Unternehmen abgeschlossen, in dem die Auszubildenden beschäftigt sind. Ein bis zwei Drittel der Auszubildenden sind bereits ein Jahr nach Abschluss der höheren Berufsausbildung in einer Führungsposition. Dieser Anteil nimmt vier Jahre nach Abschluss zu (BFS, 2022).

 

Wenig Anzeichen für nachhaltiges Pipeline-Management – aber die Gelegenheit dazu kommt

Die Führungspipeline ist gefüllt mit (vielfältigem) Potenzial. Aber wenn sie nicht richtig gemanagt wird, wird das Gesicht der Führungsetagen weiterhin überwiegend männlich (und weiss) sein. Die mittleren und oberen/obersten Kader sind eine ziemlich homogene Gruppe: 80% sind männlich, davon sind 70% Schweizer, 74% deutschsprachig, über 60% haben einen Tertiärabschluss und 45% sind über 50 Jahre alt. Betrachtet man nur das obere/oberste Kader, so sind weit über 55% über 50 und mehr als 8% über 60 Jahre alt. Solange diese Gruppe so homogen bleibt, ist ein echter kultureller Wandel unwahrscheinlich, da diese Mitarbeitenden wahrscheinlich auf ähnliche Weise sozialisiert, ausgebildet und erzogen wurden.

Zwar erhöhen die Unternehmen technisch gesehen den Anteil von Frauen in Kaderpositionen sowohl durch Beförderungen als auch durch Neueinstellungen, doch gibt es insgesamt wenig Anzeichen dafür, dass sie ihre vielfältigen Talentpools voll ausschöpfen. Betrachtet man die Mitarbeitenden, die keine Führungspositionen innehaben, als potenziellen Talentpool für die untersten und unteren Kaderstufen, so wird diese Führungspipeline durch interne Entwicklungsmassnahmen (Beförderungen) nicht voll ausgeschöpft. Während der Frauenanteil im Nicht-Kader 44% beträgt, sind nur 36% der Beförderten ins unterste/untere Kader Frauen. Bei den Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader sieht es etwas besser aus: Mit einem Frauenanteil von 27% bei den Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader wird der Talentpool der untersten und unteren Kaderstufen (30%) relativ gut genutzt (auch wenn Frauen weiterhin unterrepräsentiert sind).

Die Zahlen für Rekrutierungen sind praktisch identisch, was darauf hinweist, dass auch die externe Pipeline nicht ausgeschöpft wird.

Führungspipeline-Management

Für Schweizer Unternehmen und Organisationen bietet sich jedoch eine einzigartige Gelegenheit. Im mittleren und oberen/obersten Kader werden in den kommenden Jahren viele Männer der Babyboomer-Generation in den Ruhestand gehen. Diese Pensionierungswelle sollte Unternehmen jetzt dazu veranlassen, sich Gedanken darüber zu machen, wie ihr zukünftiges Topmanagement in Bezug auf Vielfalt, Kompetenzen, (inklusives) Mindset, Werte usw. aussehen soll. Diese natürlichen Abgänge stellen gleichzeitig auch eine wirtschaftliche Herausforderung dar: Ende 2021 ist der Fachkräftemangel Index Schweiz im Vergleich zum Sommerhalbjahr 2020 um 27% gestiegen (Adecco, 2021). Daraus ergibt sich auch die Gefahr eines Wissensverlustes, die als Teil der Zusammenstellung eines nachhaltigen Kaders bei der Nachfolgeplanung berücksichtigt werden muss.

Aufgrund dieses Mangels an Fachkräften sind die Arbeitgeber:innen darauf angewiesen, Talente aus allen Bereichen zu erreichen und ihre vorhandenen Talente zu fördern und zu halten. Dies verlangt auch ein Überdenken der Frage, wer als Talent betrachtet wird. Traditionelle Vorstellungen von “Talent” binden den Begriff oft an eine bestimmte Altersgruppe oder an ein bestimmtes Bildungsniveau (Ritz & Sinelli, 2011). Diese Konnotation geht häufig mit der Vorstellung einher, dass ein “Talent” eine exklusive Bezeichnung für einige wenige Mitarbeitende ist, die so früh wie möglich identifiziert, gefördert und mit allen Mitteln gehalten werden sollten (von Hehn, 2016). Im Gegensatz dazu geht ein inklusives Talentmanagement davon aus, dass “Talent” als etwas angesehen wird, das jede:r Mitarbeitende in irgendeiner Form hat und das – auf unterschiedliche Weise – Potenzial darstellen kann.

Spotlight

DEI: Es ist an der Zeit (bevor uns die Zeit ausgeht)

Die mangelnden Fortschritte von Unternehmen in Bezug auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (Diversity, Equity, and Inclusion – DEI) werden oft auf «Unconscious Biases» oder “Pipeline-Probleme” zurückgeführt. Diese DEI-Schlagworte haben in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, wahrscheinlich weil sie mit einer schnellen Schulung leicht «abgehakt» werden können, und die Verantwortung für die Lösung des Problems dann bei anderen gesehen wird. Aber wie wir in den letzten Jahren gesehen haben – auch gemäss stagnierendem Anteil von Frauen in Führungspositionen laut Gender Intelligence Report 2021- reicht das nicht aus. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Es ist nicht nachhaltig.

“Grosse Herausforderungen wie der Klimawandel stehen vor der Tür, aber um auch hier den Fortschritt zu beschleunigen, müssen wir den Input, die Kreativität und die Innovation unserer ausgebildeten (weiblichen) Talente optimal nutzen.”

Frauen mögen stärker vom Klimawandel und damit zusammenhängenden Phänomenen und negativen Konsequenzen betroffen sein, aber Frauen sind vielleicht auch in einer einzigartigen Position, um das Klima und damit verbundene Krisen proaktiv anzugehen. So haben Frauen im Durchschnitt einen kleineren CO2-Fussabdruck als Männer, eine verantwortungsvollere Einstellung zum Klimawandel und ein grösseres Interesse am Umweltschutz. In Kombination mit ihrem stärker mitfühlenden, kooperativen und kommunikativen Führungsstil sind weibliche Führungskräfte also möglicherweise besonders gut geeignet, um in solchen Krisen effektiv zu führen.

Dazu bedarf es einer mutigen Führung, einer guten Datenlage und einer Prise Bescheidenheit, um problematische Menschen und Praktiken zu verbessern und um “Mythen” zu beseitigen, die Organisationen in der Vergangenheit feststecken lassen, Ungleichheiten aufrechterhalten und unsere Zukunft bedrohen. Frauen sollten beispielsweise in der Lage sein, Strategien und Initiativen für Vielfalt und Nachhaltigkeit zu verfolgen, ohne dass es zu Gegenreaktionen kommt – gleichzeitig sind diese Themen so wichtig und dringlich, dass sie auch die Aufmerksamkeit, das Interesse und die Beteiligung von Männern erfordern. Um die Wirksamkeit in diesen Bereichen zu fördern, sind jedoch Nachweise erforderlich, und oft fehlt es uns schon an grundlegenden Daten. Daher sind koordinierte, datengestützte Bemühungen von Führungskräften und Mitarbeitenden, Finanz-, D&I- und Nachhaltigkeitsteams das beste Rezept für langfristigen Fortschritt und Erfolg.

Mit Ihrer Motivation und Partnerschaft, gepaart mit dem konsequenten, engen Monitoring des jährlichen GIR, können wir vom CCDI an der HSG und bei Advance gemeinsam messbare und sinnvolle Fortschritte erzielen, denn es ist höchste Zeit, dass die Verantwortlichen ihre aufrichtigen, evidenzbasierten DEI-Bemühungen verstärken, bevor uns allen die Zeit davonläuft.

Es ist höchste Zeit, “Führung” neu zu denken

Dass Schweizer Unternehmen eine wenig inklusive Führungskultur haben, wird unter anderem bei der Betrachtung der Beschäftigungsgrade überdeutlich. Je höher die Kaderstufe, desto höher ist der Beschäftigungsgrad, unabhängig vom Geschlecht. Als Führungskraft ist es immer noch die Norm, Vollzeit zu arbeiten. Allerdings haben Männer auf allen Kaderstufen einen höheren Beschäftigungsgrad (Vollzeit oder vollzeitnah), während Frauen viel häufiger Teilzeit arbeiten. Um eine höhere Stufe zu erreichen, müssen Frauen daher ihren Beschäftigungsgrad stärker erhöhen, was ein Hindernis darstellen kann. Gerade während der typischen Familienzeit sinkt der Beschäftigungsgrad von Frauen – was mit der Altersgruppe zusammenfällt, in der die meisten Beförderungen stattfinden, nämlich zwischen 31 und 40 Jahren.

Durchschnittlicher Beschäftigungsgrad nach Geschlecht und Kaderstufe

Frauen
Männer
Obserstes und oberes Kader
Mittleres Kader
Unteres Kader
Unterstes Kader
Nicht-Kader

Was lässt sich daraus schliessen? Die Unternehmen in der Schweiz scheinen in einer bestimmten vorgefassten Vorstellung davon “festzustecken”, wie eine Führungskraft – und wie Führung – aussieht. Dieses Bild basiert auf einem traditionellen Familienmodell mit männlichem Hauptverdiener und Frau/Partner:in zu Hause, die ihn mit Haushalt/Familie/Pflege unterstützt (Aboim, 2010; Ciccia & Verloo, 2012). Solange Karriereverläufe und -erwartungen starr an dieses antiquierte Bild gebunden sind, werden nicht nur bestehende Mitarbeitenden potenziell “ausgeschlossen”. Da der Fachkräftemangel zur dringlichen Realität wird, verlieren Schweizer Unternehmen auch einen unschätzbaren, vielfältigen Talentpool, einfach weil sie nicht in der Lage sind, das Bild einer Führungskraft zu überdenken.

Spotlight

Frauen & Finanzen – Close the Gaps!

Was ist der Unterschied zwischen einer weiblichen und männlichen “Geldbiographie”? Das “Geldleben” eines Mannes lässt sich graphisch einfach nachzeichnen. Es genügt ein Strich, eine gerade Linie, die nach oben zeigt. Der typische Mann häuft in seinem Leben stetig mehr Geld an, verdient und investiert mehr.

Das finanzielle Leben einer Frau gleicht dagegen einer verworrenen Kurve mit einigen Höhen, aber vor allem Tiefen. Es ist gezeichnet von Unterbrüchen, Lücken, nicht-linearen geldlosen Lebensabschnitten voller Teilzeitarbeit oder unbezahlter Betreuungsarbeit für Kinder, Eltern oder Angehörige. Das finanzielle Leben der Durchschnittsfrau ist früh auf einem tieferen Niveau und schwingt sich auch nie wieder auf die Höhen einer männlichen Geldlebenslinie, sondern endet in einem “Pension-Gap” von 37 Prozent.

 

Finanzielle Eigenständigkeit muss zum Standard werden

Die Geld-“Gaps” im Leben der Frauen beginnen beim Taschengeld, setzen sich fort beim Lohn und bei Investitionen bis hin zu einer geringeren Rente. Die Lücken sind zahlreich und verstärken sich lebenslang gegenseitig. Mit welchem Resultat? 56 Prozent der Frauen in der Schweiz können sich selbst nicht finanziell über Wasser halten und dies im zweitreichsten Land der Welt. Das verhindert Eigenständigkeit und führt zu Abhängigkeiten vom Mann. – Damit ist Geld die letzte Frontlinie in Sachen Gleichstellung.

«Frauen wissen viel mehr über Finanzen, als sie denken. Sie sollten sie selbst in die Hand nehmen.»

Wer will schon auf den Systemwandel warten?

Sowohl das Steuer- wie Sozialversicherungssystem in der Schweiz tragen massgeblich zu diesen Geld-Lücken bei. Die Probleme sind erkannt: So läuft zum Beispiel eine Initiative zur Individualbesteuerung. Dahingegen wurde Abschaffung des Koordinationsabzuges, welche Teilzeitarbeitende und schlecht entlöhnte Frauen um ihre Rente bringt, trotz 35 Jahren Kampf abgelehnt. Auch die Elternzeitinitiative wurde abgelehnt. Das Parlament ist immer noch männlich dominiert. Der politische Systemwandel braucht Zeit. Zeit, die die Frauen nicht haben. Deshalb sind Wissen und Aufklärung über die Lücken – und wie man diese privat schliessen kann – enorm wichtig.

 

Schliesst die Lücken – jetzt!

Frauen wissen viel mehr über Finanzen, als sie denken und sie sollten diese selbst in die Hand nehmen. Mit dem Warten auf den Systemwandel ist niemandem geholfen. Nur wer die Geld-“Gaps” kennt, kann diese schliessen bzw., besser noch, vermeiden. «Know the gaps, mind the gaps, and close the gaps!»

  • Patrizia Laeri

    Ökonomin, preisgekrönte Wirtschaftsjournalistin und CEO elleXX Universe AG

    patrizia.laeri@ellexx.com

Die durch die Pandemie entstandene Chance muss genutzt werden, Führungskräfte neu als Individuen mit einzigartigen Bedürfnissen und Wünschen zu verstehen, da die meisten Unternehmen inzwischen umfangreiche praktische Erfahrungen mit flexiblem Arbeiten gemacht haben. Flexibles Arbeiten ist, wenn es richtig gemacht wird, auch eine einzigartige Gelegenheit, Vertrauen zu demonstrieren und Mitarbeitende zu befähigen (Hussain et al., 2014).

EY ist ein Unternehmen, das sich nicht nur auf die Definition von Führung achtet, sondern den Fokus insbesondere das gelebte Verhalten seiner Führungskräfte richtet. Das Unternehmen nutzt Storytelling, um Führungskräfte zu engagieren und ein psychologisch sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen, gekoppelt mit Techniken des aktiven Zuhörens, so dass sich die unterschiedlichen Mitarbeitenden gehört und besser verstanden fühlen. Für Inspiration klicken Sie hier.

Inklusion – und eine inklusive Unternehmenskultur – ist ein Schlüsselfaktor beim Aufbau einer vielfältigen Talentpipeline, die in Zeiten eines immer aktuelleren Fachkräftemangels eine dringende Notwendigkeit darstellt. Nachhaltiges Talentmanagement geht über die Anwerbung, Entwicklung und Bindung von Mitarbeitenden hinaus (Pasmore, 2015). Es geht darum, eine Kultur der Inklusion zu schaffen, in der sich unterschiedliche Talente mit einzigartigen Bedürfnissen wertgeschätzt und zugehörig fühlen. Ein nachhaltiges Talentmanagement beinhaltet, vielfältige Talente zu befähigen, damit sie aktiv die inklusive (Führungs-)Kultur mitgestalten können, die sie brauchen, um langfristig erfolgreich zu sein. Diese Befähigung stellt sicher, dass eine Unternehmenskultur, in der sich vielfältige Talente entfalten können, langfristig Realität wird. Inklusion ist also eine wesentliche Voraussetzung für ein nachhaltiges Talentmanagement.

 

Inklusion als Katalysator für mehr Vielfalt

Letztes Jahr haben wir Schweizer Unternehmen gebeten, den Business-Case für Inklusion zu definieren. Dieses Jahr wollten wir wissen: Was tun Schweizer Unternehmen tatsächlich, um eine inklusive Kultur aufzubauen und inklusive Führung zu fördern?

Ein Unternehmen, dem es gelungen ist, das Thema Inklusion in seine “SIX Spirit” Transformationsstrategie integrieren, ist SIX. Eine interne Trainer-Community, die über alle Hierarchieebenen vertreten ist, arbeitet daran, jede:n Mitarbeitende:n auf eine gemeinsamen Weg in Richtung einer offenen, inklusiven und “growth”-orientierten Kultur mitzunehmen. Für Inspiration klicken Sie hier.

 

Inklusion in der Organisation verankern

Legen die meisten Schweizer Unternehmen derzeit Wert auf Inklusion? Die kurze Antwort: Es kommt darauf an. In der Mehrheit der Unternehmen (über 50%) ist Inklusion Teil der Personalstrategie, der D&I-Strategie, der Unternehmensstrategie oder in allen eben genannten Strategieformen. Allerdings scheint Inklusion deutlich häufiger in der Personalstrategie aufgenommen zu werden, als Teil der Unternehmensstrategie oder des Unternehmensleitbilds zu sein (wobei letzteres nicht in allen Unternehmen vorhanden ist), was darauf hindeutet, dass Inklusion als ein HR-Thema und nicht als ein strategisches Thema des Kerngeschäfts angesehen wird. Die Aufnahme von Inklusion in das Unternehmensleitbild zeigt, dass ein Unternehmen sie als Teil seiner Kernaufgabe betrachtet. Wenn Inklusion ein zentraler Wert und ein strategisches Ziel für das Unternehmen ist, sollte dies im Unternehmensleitbild zum Ausdruck kommen.

Wie ist Inklusion in der Organisation verankert?

 

Im Gegensatz dazu haben 66% der Unternehmen Diversität in ihre Unternehmensstrategie und 32% in ihr Leitbild aufgenommen. Dieser Unterschied zwischen Strategie und Leitbild deutet auf ein stärkeres Verständnis dafür hin, dass Diversität der Schlüssel zum Geschäftserfolg ist. Jedoch scheinen sich Schweizer Unternehmen noch zu wenig bewusst zu sein, dass Diversität ohne Inklusion nicht funktioniert.

 

Messbare Inklusionsziele setzen

61% der Unternehmen haben messbare, allgemeine Ziele für Inklusion. Diese Zahl mag zwar hoch erscheinen, ist aber immer noch niedriger als bei den Unternehmen mit messbaren Diversitätszielen (72%). Dies ist insofern von Bedeutung, als Unternehmen, die sich auf Diversitätsziele konzentrieren, ohne diese mit Inklusionszielen zu verbinden, eher Assimilierung an die alte Unternehmenskultur als kulturellen Wandel fördern. Assimilierung steht somit im Kontrast zu einer positiven, kulturellen Transformation, welche eine inklusive Unternehmenskultur fördert (Jacobs et al., 2022).

Gibt es die folgenden messbaren Ziele?

Ja
Nein
Inklusion
59%
41%
Diversity
71%
29%

Empowerment und Verantwortung für Führungskräfte

Letztlich sind es die einzelnen Führungskräfte, die inklusive Teams aufbauen und im Geschäftsalltag eine Vorbildfunktion haben. Diese Führungskräfte managen Inklusion, um auf die gemeinsame Unternehmensvision einer inklusiven Kultur hinzuarbeiten, und sorgen so dafür, dass die Organisation ihre Ziele erreicht (Nishii 2013, Shore et al. 2011). Zu den Inklusionszielen für Führungskräfte können bewährte Konfliktlösungsfähigkeiten, die Teilnahme an Inklusionsschulungen (z. B. psychologische Sicherheit oder inklusive Führung), Ergebnisse von Mitarbeitendenumfragen auf Teamebene in Bezug auf Inklusion usw. gehören. Die Führungskräfte müssen für die Erreichung dieser Ziele verantwortlich gemacht werden. Führungskräfte sollten nicht überrascht sein, wenn sie bei der Leistungsbeurteilung darauf angesprochen werden, ob sie Inklusion erfolgreich vorangetrieben haben oder nicht. Derzeit haben aber nur 36% der Unternehmen messbare Inklusionsziele für Führungskräfte, verglichen mit 49% der Unternehmen, die Diversitätsziele für Führungskräfte formuliert haben. Wie realistisch ist es aber, Diversitätsziele zu erreichen, wenn diese Ziele nicht an Inklusion gekoppelt sind?

Existieren die folgenden Ziele für Führungskräfte?

Ja
Nein
Inklusion
36%
64%
Diversity
49%
51%

Gleichzeitig ist es wichtig festzuhalten, dass immer mehr Unternehmen ihren Führungskräften die wichtigsten Instrumente zur Förderung der Inklusion an die Hand geben. 57% der Unternehmen machen inklusive Führung zu einem integralen Bestandteil der Entwicklungsprogramme für Führungskräfte, und 52% machen dasselbe für psychologische Sicherheit.

Letztlich geht es als inklusive Führungskraft darum, andere Menschen zu respektieren. Respekt und die Vermittlung dieses Respekts bedeuten, über den normalen geschäftlichen Nutzen von Vielfalt hinaus zu gehen (Wettstein, 2012). Diese Art der Behandlung von Mitarbeitenden schlägt eine Brücke vom Business-Case zur Geschäfts- und Menschenrechtsperspektive zum humanistischen Managementverständnis (Pirson, 2017). Solche Sichtweisen schaffen ein ganzheitliches Verständnis von Mitarbeitenden. Mitarbeitende sind mehr als nur Arbeitskräfte; sie sind Personen, die ein Leben in Würde, die Maximierung ihrer Freiheiten und die psychologische Sicherheit verdienen, um ungehindert arbeiten zu können. Doch damit sich dieses Verständnis in der Unternehmenskultur verankert, müssen die Führungskräfte in die Pflicht genommen werden.

 

Rekrutierungen und Beförderungen als wichtiger Hebel für Inklusion

Organisationale Key Performance Indicators (KPIs) für Inklusion sollten nicht nur für Verhaltensweisen, sondern auch für wichtige Personalentscheidungen wie Rekrutierung, Talententwicklung, Mitarbeitendenbindung, Leistungsbeurteilung und Beförderung definiert werden. Inklusionskompetenz ist entscheidend für Talente und (zukünftige) Führungskräfte, welche die Teamkultur prägen, um eine nachhaltige Inklusionskultur zu gestalten.

Das Berücksichtigen von Inklusion bei der Rekrutierung ist ein wichtiger Schritt für ein nachhaltiges Talentmanagement und schafft die Voraussetzungen für den Erhalt und die Stärkung eines Umfelds, in dem unterschiedliche Talente gefördert und geschätzt werden. Dabei ist es essenziell, ein inklusives «Cultural Fit-Verständnis» zu verfolgen. Viele Unternehmen tappen in eine Diskriminierungsfalle, wenn sie gezielt nach dem «Cultural Fit» suchen (d. h. nach potenziellen Mitarbeitenden, die dem aktuellen Unternehmensklima am ähnlichsten sind). Um dies zu vermeiden, ist es wichtig, Bewerbende einzustellen, für die Inklusion nachweislich ein zentraler Wert ist.

Werden inklusionsrelevante Kompetenzen in HR-Prozessen berücksichtigt?

Ja
Nein
Rekrutierungen
23%
77%
Beförderungen
37%
63%

Interessanterweise scheinen die Unternehmen bei Beförderungen mehr Wert auf inklusives Verhalten zu legen als bei Rekrutierungen. Das mag daran liegen, dass es einfacher ist, Inklusionskompetenz bei Mitarbeitenden zu beurteilen, die diese Fähigkeiten bereits in der Praxis bewiesen haben (oder auch nicht). Dass die Unternehmen nicht zwingend den Bogen zwischen Vielfalt und Inklusion schlagen, wird auch deutlich, wenn man die Definition von Diversitätszielen für wichtige HR-Prozesse betrachtet: 88% haben Diversitätsziele für die Rekrutierung, 64% für Beförderungen.

 

Ein intersektioneller Ansatz: Mitarbeitendennetzwerke (Employee Resource Groups)

Um eine inklusive Unternehmenskultur in Ihrem Unternehmen zu schaffen und zu fördern, ist es wichtig, Führungskräfte und Mitarbeitende aller Ebenen einzubeziehen, um eine gemeinsame Vision zu entwickeln und sich gegenseitig zu unterstützen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht eine authentische Umsetzung von Inklusion, bei der sich alle Mitarbeitenden wertgeschätzt fühlen und das Gefühl haben, dass sie eine Stimme haben und dazugehören. Dies beginnt mit der Schaffung geschützter Räume für gegenseitige Unterstützung, Vernetzung, Austausch und Lernen. Um Mitarbeitende einzubinden und besser zu unterstützen, etablieren Unternehmen häufig Mitarbeitendennetzwerke oder “Employee Resource Groups” (ERGs). Diese ERGs geben den Mitarbeitenden eine Stimme, wobei die Unterstützung durch die Organisation wichtig ist, um marginalisierte Mitarbeitende nicht übermässig zu belasten.

Für welche Mitarbeitendengruppen existieren ERGs?

Die gute Nachricht: 90% der Unternehmen haben ERGs für Frauen, 62% haben Netzwerke für LGBTQI+-Angestellte. Die weniger gute Nachricht? Die Unternehmen legen in der Regel deutlich weniger Wert auf Programme für weitere Gruppen: Beispielsweise verfügt nur etwa eine von fünf Organisationen über eine ERG für ethnische Minderheiten. Mehr Inklusion bedeutet, zu akzeptieren, dass Vielfalt intersektionell ist, und Ressourcen für alle potenziell stigmatisierten Gruppen verfügbar zu machen.

Schweizer Unternehmen müssen noch stärker einen intersektionellen Ansatz verfolgen, wenn sie Mitarbeitende unterstützen. Warum ist das im Rahmen dieser Studie wichtig? Der Begriff Intersektionalität wurde erstmals von der amerikanischen Wissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw (1989) geprägt und konzentriert sich auf die Frage, wie die Überschneidung der Identitäten einer Person zu mehr oder weniger Privilegien für diese Person führen kann. Schliesslich ist jede Frau mehr als nur ihr Geschlecht und kann aus intersektioneller Perspektive mehrere Identitäten haben. Die Überschneidung von Geschlecht und sexueller Orientierung zeigt zum Beispiel, dass eine Weisse Frau, die heterosexuell ist, mehr Privilegien hat als eine Weisse Frau, die homosexuell ist. Bezieht man die Ethnie in die Betrachtung mit ein, so haben Weisse Frauen im Vergleich zu Schwarzen Frauen mehr Privilegien am Arbeitsplatz. Zwischen Schwarzen Frauen gibt es in Verbindung mit sexueller Orientierung ebenfalls den Unterschied hinsichtlich Privilegien. Das Schaffen von Systemen, welche die am stärksten Marginalisierten und diejenigen, die sich mehreren marginalisierten Gruppen zugehörig fühlen, einbeziehen, ist der effektivste Weg, alle zu integrieren, einschliesslich der dominanten Mehrheitsgruppe – es ist eine Win-Win-Win-Situation (Praslova, 2022; Shore et al, 2011). Systemische Inklusion, die Intersektionalität berücksichtigt, adressiert umfassend alle Barrieren und verankert Inklusion in allen Talentprozessen und Entscheidungsmechanismen.

 

Ein inklusiver, intersektioneller Ansatz im Talentmanagement?

Aufgrund mangelnder Privilegien von Mitarbeitenden aus marginalisierten Gruppen ist es wichtig, dass die Organisation sie durch Führungsentwicklung und andere Initiativen unterstützt. Zu solchen Programmen gehören Sponsoring, Coaching, Reverse Mentoring und Mentoring. Auch hier zeigt sich ein Mangel an einem intersektionellen Ansatz. 45% der befragten Unternehmen haben Mentoring-Programme für Frauen, das ist weniger als die Hälfte (und deutlich weniger als der Anteil Unternehmen, die ERGs für Frauen haben, die fälschlicherweise oft mit weniger organisatorischem Aufwand verbunden sind). Initiativen für Mitarbeitende, die aus anderen Gruppen stammen, gibt es dagegen nur bei einem sehr geringen Anteil der Unternehmen.

Welche Talententwicklungsprogramme gibt es?

Spotlight

Mit Intersektionalität die Auswirkungen von Colorism verstehen

Colorism ist eine Form der Diskriminierung, die dadurch entsteht, dass Menschen derselben ethnischen Gruppe eine unterschiedliche Hautfarbe haben. Diese Art der Diskriminierung hat ihre Wurzeln im Rassismus. Angehörige einer ethnischen Gruppe, die eine hellere Hautfarbe haben, werden als privilegierter wahrgenommen, da ihr Aussehen an Orten, die von Weissen kontrolliert werden, eher akzeptiert wird. Von einem intersektionellen Standpunkt aus betrachtet, hat Colorism auf Women of Color einen stärkeren Einfluss als auf Men of Color. Am Arbeitsplatz zeigt sich dies in der Voreingenommenheit von Führungskräften gegenüber Schwarzen Frauen mit natürlichem Haar im Vergleich zu Frauen mit glattem Haar (Koval & Rosette, 2021). Aufgrund stärkerer Privilegien behandeln Menschen mit heller Hautfarbe Menschen mit dunklerer Hautfarbe unter Umständen schlechter als ihre Weissen Kolleg:innen. Für hellhäutige Angehörige einer marginalisierten Gruppe besteht ein Anreiz, sich einen Stil anzueignen, der sie in vielen akademischen oder beruflichen Umgebungen noch “Weisser” macht. Der Umgang mit Schwarzen Mädchen in der High School zeigt die Auswirkungen von Colorism. Hannon, De Fina und Bruch (2013) zeigen, dass unter diesen Mädchen diejenigen mit dunklerer Hautfarbe dreimal häufiger suspendiert wurden als ihre hellhäutigen Mitschülerinnen. Das Verständnis für Colorism ist für inklusive Führungskräfte in Schweizer Unternehmen unerlässlich. Führungskräfte müssen erkennen, wann sie zu Colorism beitragen, und sie müssen ein Umfeld schaffen, um diesen zu überwinden. Eine Entschärfung von Colorism gibt Women of Color die psychologische Sicherheit, sich selbst zu sein, ohne Angst vor Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe oder Frisur.

“Eine Organisation, die sich gegen Colorism wendet, hebt die traditionellen (weissen) europäischen ethnischen Normen auf, die zur Marginalisierung von People of Color führen, und verfolgt einen echten intersektionellen Ansatz in Richtung Inklusion.”

Ein letzter Punkt zum Thema Haare – wenn Sie ein Ally sind, fragen Sie niemals eine Schwarze Person, ob Sie ihr Haar anfassen dürfen (ja, das kommt vor).

Ausblick: Branchenauswertungen

Zum ersten Mal beinhaltet der GIR Analysen für einzelne Branchen. Im Folgenden finden Sie etwa Antworten auf Fragen wie: Gelten diese Schlussfolgerungen für alle Branchen? Gibt es Branchen, die in Sachen Geschlechterdiversität und Inklusion führend sind und in denen Frauen in ihrer Karriere ähnlich schnell vorankommen wie Männer? Gibt es Branchen, die hinterherhinken? Und wo steht IHRE Branche?

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