In der Versicherungsbranche gibt es einen starken Kontrast zwischen Nicht-Kader und dem oberen/obersten Kader. Im Nicht-Kader sind Frauen in der Mehrheit. Bereits im untersten Kader nimmt der Frauenanteil jedoch um 15 Prozentpunkte ab, so dass noch 42% der Beschäftigten auf dieser Stufe Frauen sind. Dieser starke Rückgang setzt sich fort, so dass im oberen/obersten Kader nur noch 16% Frauen sind. Ein “Dammbruch” beschreibt das wahrscheinlich besser als eine “leaky Pipeline”.
Frauen sind in den Hierarchiestufen und Positionen, die mit weniger Einfluss und Aufstiegsmöglichkeiten verbunden sind, stärker vertreten: Im untersten Kader (wo der Frauenanteil bei 42% liegt) ist beispielsweise weniger als jede fünfte Position mit Personalverantwortung verbunden. Das deutet darauf hin, dass Frauen mehrheitlich in “nominellen” Kaderpositionen (bspw. Fachkader oder administrativen Rollen) vertreten sind.
Das mittlere und obere/oberste Kader ist nicht nur eindeutig männerdominiert, sondern auch in anderen Diversitätsdimensionen vergleichsweise homogen. 80% der männlichen Führungskräfte auf diesen Stufen sind Schweizer, 91% arbeiten Vollzeit, die überwiegende Mehrheit spricht Deutsch und fast 50% sind über 50 Jahre alt. Dies bedeutet, dass in den nächsten Jahren eine Welle von Babyboomer-Pensionierungen zu erwarten ist, was aber auch eine Chance für die Diversifizierung dieser Kaderstufen darstellt.
Die Versicherungsbranche schöpft ihre Talentpipelines über alle Kaderstufen hinweg nicht aus. So beträgt der Frauenanteil bei den Beförderungen ins unterste und untere Kader 44%. Dies steht gegenüber 57% Frauen im Nicht-Kader. Und obwohl der Frauenanteil im untersten und unteren Kader 35% beträgt, sind nur 23% der Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader Frauen.
Während die Versicherungsbranche Beförderungen nutzt, um den Frauenanteil im untersten und unteren Kader zu erhöhen, wirken sich Rekrutierungen kaum positiv auf den Frauenanteil in diesen Stufen aus. Im Gegensatz dazu erreichen Frauen in der Versicherungsbranche Positionen im mittleren und oberen/obersten Kader eher durch externe Rekrutierung als durch interne Entwicklung.
Männer sind zudem besser ausgebildet als Frauen, was auch für die jüngere Generation gilt. Durch diesen Unterschied in den Ausbildungen sind die Aufstiegschancen von Männern deutlich höher, da Tertiärabschlüsse im Kader die Norm zu sein scheinen – bei Frauen wie Männern. Nur 21% der Frauen bis 30 Jahre im Nicht-Kader haben einen Tertiärabschluss, aber 30% der Männer. Mit anderen Worten: In diesem Bereich der Talentpipeline sind junge Männer nach wie vor besser qualifiziert und haben höhere Chancen, an die Spitze zu gelangen. Im Gesamtsample aller Branchen ist kein derartiger Bildungsunterschied festzustellen. Auch dies deutet darauf hin, dass in der Versicherungsbranche junge Männer häufiger in Positionen mit Entwicklungspotenzial eingestellt werden, Frauen hingegen eher in administrativen Funktionen mit weniger Aufstiegschancen. Das könnte erklären, warum Männer bei Beförderungen nach wie vor häufiger berücksichtigt werden.
Warum schaffen es Frauen nicht bis ganz nach oben? Ein Blick auf die Altersverteilung bei Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader bringt Klarheit. Während die Beförderungsrate der Frauen ins unterste und untere Kader über alle Altersgruppen hinweg gleichbleibt, gibt es bei den Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader grosse Unterschiede. Diese treten in der Familienphase zwischen 31 und 50 Jahren auf, sind aber besonders ausgeprägt zwischen 41 und 50 Jahren. In diese Altersgruppe fallen fast die Hälfte der Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader. Zwischen 51 und 60 Jahren ist der Anteil der Beförderungen ins mittlere und obere/oberste Kader für Männer und Frauen fast gleich. Es scheint, dass Frauen nach der Familienphase eine weitere Chance auf eine Beförderung in höhere Kaderstufen erhalten.
Bei den Rekrutierungen ins mittlere und obere/oberste Kader werden Frauen und Männer bis zum Alter von 40 Jahren in etwa gleich berücksichtigt. Danach werden Männer deutlich häufiger rekrutiert als Frauen.
Das Bild einer Branche, die an traditionellen Werten und Denkweisen festhält, wird durch die durchschnittlichen Beschäftigungsgrade der Frauen und Männer noch verstärkt. Nur 52% der Frauen in der Versicherungsbranche arbeiten Vollzeit, während 84% der Männer dies tun. Diese Anteile sind im Gesamtsample aller am GIR teilnehmenden Unternehmen ähnlich. Auffallend ist aber, dass in der Versicherungsbranche ein besonders grosser Unterschied im durchschnittlichen Beschäftigungsgrad von Männern und Frauen in den unteren Kaderstufen besteht. Dieser Unterschied zeigt sich vor allem zwischen 35 und 45 Jahren – d.h. genau in dem Alter, in dem Männer überproportional häufig in das mittlere und obere/oberste Kader befördert werden. Dies deutet auf eine klare Erwartung von Vollzeit in diesen Kaderstufen hin und dürfte zumindest teilweise die grossen Lücken in der vielfältigen Talentpipeline der Versicherungsbranche erklären.
Die Versicherungsbranche sollte ihre Definition von Talent und Talentmanagement überdenken und alle Mitarbeitenden als Talente betrachten. Welche (vielfältigen) Talente haben Sie, und wie können Sie diese entwickeln?